Klimamodellierer Jochem Marotzke: Mehr Zeit zur Dekarbonisierung, frühere Klimamodelle waren zu empfindlich

Am  5. Oktober 2018 brachte der Spiegel ein bemerkenswertes Interview mit Deutschlands berühmtestem Klimamodellierer, Jochem Marotzke:

Unerwarteter Zeitgewinn im Klima-Szenario: „Unsere Galgenfrist verlängert sich um rund zehn Jahre“
Der Physiker und Klimaforscher Jochem Marotzke erklärt, warum die Menschheit etwas mehr Zeit hat, die globale Erwärmung zu stoppen, als man bislang glaubte.

Oder anders ausgedrückt: Man hat die Erwärmung offenbar überschätzt. Aber Moment mal, war das nicht genau das, was wir auch in unserem Buch „Die kalte Sonne“ geschrieben haben? Damals, im Jahr 2012, fand Marotzke das völlig abwegig. Heute scheint er diese Ansicht zumindest ein Stück weit zu teilen. Das ist erfreulich, und wir sind auch nicht nachtragend. Der Blick geht nach vorne. Das Interview ist leider nur für Spiegel-Abonnenten zugänglich, schade. Vielleicht ein guter Anlass, den Spiegel für einen Gratis-Monat zu abonnieren und dann auch dieses wichtige Interview in ganzer Länge zu lesen. Hier ein paar Auszüge aus dem Gespräch, das Spiegel-Redakteur Olaf Stamp mit Marotzke führte:

MAROTZKE: […] Und wir haben ja jetzt schon eine Erwärmung von einem Grad gegenüber dem vorindustrielle Zeitalter. […]

Hier irrt der Hamburger Professor leider. Er müsste nämlich eigentlich die Durchschnittstemperatur des vorindustriellen Zeitalters der letzten 10.000 Jahre heranziehen, nicht nur die abnormal kalte Kleine Eiszeit. Betrachtet man die gesamten letzten zehn Jahrtausende, so sieht man, dass wir erst 0,4°C über dem Durchschnitt liegen. Siehe Abbildung 2 in Lüning & Vahrenholt 2017 (kostenloses pdf hier). Und selbst dies ist unklar, da es noch keine hochauflösende Temperaturhistorie für diese Zeit auf globalem Maßstab gibt. Fallstudien weisen darauf hin, dass die Temperaturen vor 7000 Jahren sogar einige Grad höher lagen als heute. Hier herrscht noch akuter Forschungs- und Synthesebedarf.

Soweit eine kleine Kritik zum Eingangsstatement. Nun aber nun zum wirklich spannenden Teil des Interviews, zu dem man Jochem Marotzke laut applaudieren möchte:

MAROTZKE: […] Denn nach den neuesten Klimaszenarien ist die CO2-Menge, die wir noch freisetzen können, weitaus größer als bisher angenommen – eine fundamentale Erkenntnis.

SPIEGEL: Wir hätten also Zeit gewonnen, die CO2-Emisionen zu verringern?

MAROTZKE: Ganz genau, darauf deuten jedenfalls die verbesserten Modelle hin. Unser verbleibendes CO2-Budget für das 1,5-Grad-Ziel ist wohl mindestens doppelt so groß wie gedacht, fast tausend Gigatonnen. Dadurch verlängert sich unsere Galgenfrist um rund zehn Jahre. Es macht natürlich einen Riesenunterschied, ob wir den Ausstoß von Treibhausgasen schon in 15 oder erst in 25 Jahren auf null bringen müssen. Ich gehe davon aus, dass dies in dem Sonderbericht die zentrale Botschaft sein wird.

Klingt irgendwie vertraut. Und wo lag das Problem?

MAROTZKE: Unsere früheren Modelle sind an einer entscheidenden Stelle zu empfindlich […]

Offenbar verbleibt ein kleinerer Teil der ausgestoßenen Treibhausgase in der Atmosphäre als gedacht, weil Wälder und Ozeane mehr davon schlucken als angenommen. Die CO2-Konzentration steigt also langsamer an als in den Modellen vormals angesetzt. Was Marotzke nicht sagt: Es spricht vieles dafür, dass auch die CO2-Klimasensitivität deutlich geringer ist als vom IPCC lange vermutet. Das sagen sogar Marotzkes eigene Kollegen am Hamburger Max-Planck-Institut, die genau dies seit einigen Jahren vertreten. Im Interview räumt er dann auch ein, dass die fehlerhaften Modelle in der Bevölkerung „mißverstanden“ werden könnte, und die Klimaforscher sich daher bereits Sorgen machen würden. Es bahnt sich etwas an.

Marotzke vermutet im Interview, dass der 1,5-Grad-Bericht des IPCC die Relativierung der Klimagefahr bereits zum Thema machen würde. Der Bericht kam drei Tage nach dem Interview heraus und enthält das glatte Gegenteil, nämlich verschärfte Klimawarnungen. Ein Hinweis darauf, dass es sich eher um einen politischen Bericht, als um eine wissenschaftliche Darstellung handelt. Offenbar haben sich die von der Politik handverlesenen IPCC-Berichtsautoren von der wissenschaftlichen Basis bereits weit entfernt. Insofern kann man die Aussagen von Marotzke auch als eine Art Kritik am IPCC und seiner Vorgehensweise verstehen. Darauf weist auch die folgende Antwort hin:

SPIEGEL: Warum wurde die Grenze von 2 Grad auf 1,5 Grad abgesenkt?

MAROTZKE: Das kam auch für uns Klimaforscher überraschend. Vor allem die westpazifischen Inselstaaten bestanden bei den Pariser Verhandlungen auf 1,5 Grad, weil sie schon bei 2 Grad vom Anstieg des Meersspiegels bedroht wären. In den meisten Weltregionen jedoch, insbesondere in Europa, erwarten wir keine großen Unterschiede zwischen einer 1,5-Grad-Welt und einer 2-Grad-Welt.  

Wieder waren politische Beweggründe wichtiger als die Wissenschaft. Kurioserweise ignorieren die pazifischen Inselstaaten zudem, dass sie auf mitwachsenden Koralleninseln wohnen, die bereits deutlich stärkere Meeresspiegelanstiegsraten im Übergang der letzten Eiszeit zum heutigen Interglazial gemeistert haben. Man muss vermuten, dass damit vor allem der Weg zu den internationalen Töpfen der Klimaausgleichszahlungen beschleunigt werden soll.

Am liebsten würden wir das gesamte Interview hier bringen, was wir aber aus Gründen des Copyright nicht tun können. Daher am besten selber mit einem (Probe-) Abo auf spiegel.de nachlesen. In der Folge erklärt Marotzke, dass es eher schwache Hinweise auf die in Potsdam so geschätzten Kipppunkte gibt. Da müsste schon der grönländische Eissschild komplett abschmelzen, und selbst das würde 3000 Jahre dauern. Marotzke erklärt auch anderen angeblichen Kipppunkten – wie dem Versiegen des Golfstroms oder dem Abschmelzen der Westantarktis  – eine klare Absage.

 

Teilen: