KALTZEIT: ein Klimaroman von Sonja Margolina

Klima, Liebe und Verbrechen. Das Klima wird von Menschen beeinflusst, heißt es. Doch will es sich einfach nicht so verhalten, wie die Propheten der globalen Erderwärmung es wieder und wieder vorhersagen. Denn anthropogener Klimawandel – hieran besteht für die Journalistin Tanja kein Zweifel – findet vor allem in den erhitzten Köpfen von Umwelteiferern statt. Die einen schüren Untergangsängste, die anderen nutzen sie, um ihre Eigeninteressen durchzusetzen. Opportunismus, Kleinmut und Hybris erzeugen eine eigene Phantomwelt, die am Ende doch an der Realität zerbricht. Sonja Margolina hat einen frechen Roman geschrieben, der deutsche Nuklearforscher, gescheiterte Entwicklungshelfer, russische Geheimdienstler und andere Weltverbesserer in witzigen Dialogen hart auf einander treffen lässt und altgediente Denkgewohnheiten tüchtig durchrüttelt. Sie führt uns dabei beinahe um die ganze Welt, vom krisengeschüttelten Kaukasus in die unwirtliche Antarktis, von der quirligen deutschen Hauptstadt in die brave schwäbische Provinz. Auch die wahre Liebe kommt nicht zu kurz. Und immer, wenn es besonders grotesk zuzugehen scheint, sind Ähnlichkeiten mit lebenden Personen und Ereignissen keineswegs zufällig, aber voll aus dem unglaublichen Leben gegriffen.

Leseprobe aus dem Kapitel EisTau:

Der Leiter des Instituts für Klimawandel (INKA) Professor Siegfried von Castorp wird durch die Kritik der „Klimaleugner“ an seinen Untergangsszenarien an den Rand des Nervenzusammenbruchs gebracht. Er ergreift die Flucht in die Antarktis.

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Am Anfang des 24. Sonnenzyklus zeigte das Klima seinen Rettern die kalte Schulter. Die von den Satelliten gemessenen Temperaturen gingen zurück. Die CO2-Emissionen, von einem rasanten Wirtschaftswachstum in China und Indien befeuert, schnellten indes in die Höhe. Beide Kurven strebten immer weiter auseinander, wie die Schere zwischen arm und reich. Selbst diejenigen, die gestern felsenfeste Belege für eine bevorstehende Eisschmelze gefunden haben wollten und einen Niedergang des Eisbärenbestands gewittert hatten, stimmten nun in den Chor der Klimaskeptiker ein. Die Flut der Kritik an den INKA-Modellen stieg unaufhaltsam an. Öffentliche Appelle an Castorp und Verrisse seiner Computermodelle nahmen kein Ende. Alle wussten plötzlich über die ausbleibenden Sonnenflecken Bescheid. In den Zeitungen tauchten unverständliche Abkürzungen wie PDO, AMO und NAO auf, die wie ein Menetekel anmuteten.

Es war die Stunde der Wendehälse. Siegfried von Castorp wurde nun von denselben Meinungsmachern als falscher Prophet geschmäht, die ihn zuvor als Visionär gefeiert hatten. Professor von Hardenberg, ein ausgewiesener Polarforscher, war dafür bekannt, einen dramatischen Rückgang des arktischen Eisschildes infolge des Klimawandels nachgewiesen zu haben. Nach seiner Emeritierung machte er sich jedoch daran, den Einfluss der CO2-Emissionen auf den Eisschwund in Frage zu stellen. Das Auf und Ab der Eisbedeckung vollzöge sich zyklisch, behauptete er nun in einem Artikel, den er an Castorp geschickt hatte. Die Ursache dafür seien multidekadische ozeanische Oszillationen, die durch die Sonnenaktivität gelenkt würden. 90% der von der Erde absorbierten Sonnenenergie würden in den Ozeanen gespeichert. Diese Wassermassen ermöglichten es, die Erde wärmer zu halten, nicht der Treibhauseffekt. Im Gegenteil kühle das Kohlendioxid die Erde ab. Ohne diesen „Klimakiller“ wäre die Erde noch viel wärmer.

Für das bisherige Verständnis des Treibhauseffekts versprach Hardenbergs Hypothese nichts Gutes. Tatsächlich wies er auf einen zyklischen Wechsel von Abkühlung und Erwärmung zwischen 1880 und 1940 sowie zwischen 1940 und 2000 hin. Das bedeutete für den Klimawandel, dass der letzten Abkühlungsphase von 1940 bis 1970 eine wärmere Phase von 1970 bis 2000 folgte. Für die Definition von Klima sollte seiner Meinung nach eine globale Durchschnittstemperatur über einen Zeitraum von 60 und nicht von 30 Jahren herangezogen werden, wie es am Weltklimarat Praxis war.

Die INKA-Modelle ließen laut Hardenberg die kalte Phase des Zyklus außer Acht. Dadurch sei die kurzfristige Klimaerwärmung stark überschätzt worden. Im letzten Klimabericht sei ein fast vollständiges Verschwinden des Eises in der Arktis prognostiziert worden, monierte er, ohne seinen eigenen Beitrag zu dieser Prognose zu erwähnen. Der Vergleich der aktuellen Entwicklung mit der in den 1930er Jahren zeigte indes einen ähnlichen Eisrückgang. Demnächst beginne jedoch eine Abkühlungsphase eines abermaligen 60jährigen Zyklus, und die Eisbedeckung am Polarkreis nehme wieder zu.

Der Blog des Emeritus wurde gut besucht, allein dieser Artikel war schon 10.000 Mal angeklickt worden. Castorps gestrige Gesinnungsgenossen ergötzten sich an der spöttischen Bewertung seiner Klimamodelle durch Ray Ashly als „Bullshit“. Die peinlichen E-Mails aus dem längst vergessenen Climategate machten wieder Schlagzeiten. In „Die Zeit“, welche die Klimaskeptiker als gut bezahlte Söldnertruppe der Konzerne verunglimpft hatte, wurde die menschengemachte Klimaerwärmung auf einmal in Frage gestellt. Die letzte Ausgabe von „Der Spiegel“ trug die Überschrift: „Die Klimakatastrophe findet nicht statt!“ Der Kölner Dom stand wieder auf dem Trockenen.

Die Energiewende lief aus dem Ruder, Milliardensubventionen für erneuerbare Energien waren dahin. Photovoltaik-Hersteller gingen reihenweise pleite. Windräder standen still oder rasten, ohne dass der dabei produzierte Strom genutzt werden konnte. Der fest eingeplanten Reduzierung der Kohlenstoffemissionen in der Zukunft ging eine für das Klima schmerzhafte Phase von wachsenden Emissionen voraus. Kohlekraftwerke liefen auf Hochtouren, wenn die Sonne streikte. Und das tat sie in diesen Breiten allzu oft. Lediglich abermalige Landtagswahlen hinderten halbwegs zurechnungsfähige Politiker daran, die stillgelegten Kernkraftwerke hochfahren zu lassen, um die Energieversorgung zu gewährleisten. „Klimaschutz“ wurde zum Unwort des Jahres.

Castorp war im Institut seit Monaten nicht mehr gesehen worden. Es hieß, dem Chef stünde ein Forschungssemester zu, und er wolle es für eine Reise in die Antarktis nutzen. Doch vielleicht, tuschelten Kollegen, musste er einfach dringend seine Visionen auf Eis legen. Denn die Klimamodelle des INKA hätten sich als Rechnung ohne den Wirt erwiesen. Der Wirt war die Sonne, und im Augenblick spielte sie bei der Erderwärmung nicht mit.

Castorp mochte Kreuzfahrten nicht. Schon beim Anblick eines mehrstöckigen Schiffes, das einem über der Berliner Stadtautobahn errichteten riesigen Wohnblock ähnelte, verspürte er Unbehagen. Mit Abertausenden von Passagieren reisen, mit ihnen dreimal am Tag essen zu müssen, sich ununterbrochen unterhalten zu lassen, erschien ihm absurd. Nur ein einziges Mal ließ er sich überreden, eine Vorlesungsreihe über den Klimawandel für die Passagiere eines Kreuzfahrtschiffes abzuhalten. Seine Frau hatte von den Galapagos-Inseln geträumt, und er schenkte ihr die Reise zu beider Silberner Hochzeit.

Diesmal wurde Castorp von einem britischen Kollegen zu einer Forschungsexpedition eingeladen, die unter anderem Eisbohrkerne aus den antarktischen Gletschern entnehmen sollte. Doch nicht die Forschung war der Grund für seinen Aufbruch zum Südpol. Er wusste einfach nicht mehr weiter. Neue Erkenntnisse, die seinen Modellen den Garaus zu machen drohten, verwirrten ihn, drangen aber nicht in sein Bewusstsein. Sie schwammen an dessen Oberfläche wie der Plastikmüll im Pazifik, der ihn auf seiner damaligen Kreuzfahrt erschüttert hatte. Bis zum Horizont, von Meeresströmungen zusammengetrieben, erstreckte sich der Abfall des globalen Konsums, der weder versinken noch abgebaut werden konnte. Das stolze Kreuzfahrtschiff durchpflügte die ozeanischen Plastikfelder. Die Schaumwellen schienen mit dem bunten Kram um sich zu werfen, und sein Herz war voller Hass auf das Menschengeschlecht.

Castorp erblickte ein sich langsam näherndes Kreuzfahrtschiff und fragte beim Kapitän, was die „Titanic“ mit den Wohlstandspensionären in diesen Breiten zu suchen habe. Wieso, entgegnete der, es gebe schon länger diese Route, die kämen jeden Sommer für viel Geld. Gerade hätten die Veranstalter sich etwas Lustiges ausgedacht, frohlockte der Kapitän. Passagiere, jedenfalls die rüstigen unter ihnen, sollten an Land gebracht werden und mit ihren Körpern einen Kreis auf dem Eis bilden – als sichtbares Zeichen gegen den Klimawandel. Ein Greenpeace-Team werde sie filmen und die Aufnahmen für Spendenaktionen nutzen. Der Kapitän zündete sich eine Zigarette an. Sein Schiff forsche seit zwanzig Jahren hier und immer zur selben Zeit. Er habe die Temperaturmessungen im Bordjournal durchgesehen: Die Werte gingen kontinuierlich zurück. Aber logisch, lächelte er, in der Antarktis stehe manches naturgemäß auf dem Kopf.

Castorp erkundigte sich, ob eine Möglichkeit bestünde, mit den Passagieren an Land zu gehen. Der Kapitän versprach ihm, das Kreuzfahrtschiff anzufunken. Es war fast Mitternacht. Die Sonne berührte die weiße Unendlichkeit, hielt kurz inne und ging abrupt unter, als ob sie Versteck spiele. Die Erde wurde auf einmal ganz klein. Castorp schien, als ob er an ihrem Ende angelangt war und es lediglich eines kleinen Schritts bedurfte, um noch hinter ihren Rand zu schauen. Er fühlte fast physisch, wie der Erdball sich um seine Achse drehte. Es verschlug ihm den Atem. Wenige Minuten später war die Feuerkugel schon wieder in voller Größe da. Sie streifte den golden aufleuchtenden Horizont und löste sich gleichgültig von der Erde.

Der Kapitän trat aus seiner Kabine. Die Aktion beginne nach dem Frühstück. Man habe gerade Pinguine gesichtet, und der Ausflug verspräche, sehr schön zu werden. In der Kajüte öffnete Castorp sein i-Pad, bekam aber kein Signal und klappte es wieder zu. Beim Frühstück konnte er kaum essen. Sein Freund beobachtete ihn besorgt und erkundigte sich, ob er eine Magenverstimmung habe. Das komme bei unerfahrenen Schiffsreisenden vor. Nein, er leide nur an Schlaflosigkeit, versuchte er, sein Gegenüber zu beruhigen. Zur verabredeten Zeit wurde Castorp von einem Kutter abgeholt und zusammen mit den Kreuzfahrtpassagieren in ihren grünen Jacken auf einen Gletscher gebracht.

Castorp erklärte dem Animateur, er wolle an der Greenpeace-Aktion nicht teilnehmen und würde sich nur gerne die Pinguine ansehen. Er käme dann wieder zu der Sammelstelle. Der Animateur ermahnte ihn, in Sichtweite zu bleiben, er könnte sonst ganz schnell die Orientierung verlieren, und wer in der Antarktis die Orientierung verliere, dem sei nicht mehr zu helfen. Der Wissenschaftler vom Forschungsschiff erschien ihm aber vernünftig, und so ließ er ihn gehen.

Schon hinter der nächsten Schneewehe begegnete Castorp einer Gruppe von Pinguinen, die zum offenen Wasser liefen. Er ging auf sie zu, doch die stattlichen Vögel zeigten kein Interesse an einer artfremden Kreatur und schienen ihn nicht einmal zur Kenntnis zu nehmen. Sie trippelten unbeirrt an ihm vorbei. Castorp wäre gern mit ihnen ein Stückchen zusammen gelaufen. Plötzlich scherte ein Pinguin aus der Reihe. Er drehte sich um und begab sich in die entgegengesetzte Richtung, ins Landesinnere. Castorp erschrak. „Du darfst nicht allein aus der Reihe tanzen!“ schrie er ihm hinterher. Der Pinguin blieb verwundert stehen. Castorp näherte sich ihm vorsichtig und kauerte sich nieder. Der Vogel hob seine Flügelchen und nickte. Vielleicht wird er von den anderen gemobbt, will nicht mehr gefügig mitlaufen, schoss es Castorp durch den Kopf.

„Hast dich mit denen überworfen, was?“ flüsterte Castorp und streckte seine Hände zu ihm aus. Der Vogel neigte den Kopf zur Seite. „O, du bist aber stolz“, lächelte er, „du pfeifst auf die Meute, stimmt`s?“ Der Pinguin steckte den Schnabel in sein Gefieder. „Hat dir schon einmal jemand gesagt, wie schön du bist? Nein? Ich denke manchmal, die Natur hat ohne Menschen keinen Sinn. Wer, wenn nicht ein Mensch, würde dir sagen, wie du geschaffen bist, wie schön dein Gefieder ist, was für einen perfekten Anzug und einen eleganten Kragen du um den Hals trägst? Wie heißt du übrigens? Ich heiße Siegfried.“ Castorp zeigte mit dem Finger auf sich. „Menschen geben allem einen Namen, wusstest du das? Ich möchte dir auch einen Namen geben. Wie wäre es mit Kaspar-David-Andreas?“ Der Pinguin war sprachlos. „So heißen meine Söhne,“ erklärte Castorp seine Wahl, „und du bist jetzt so etwas wie deren Patenkind.“ Kaspar-David-Andreas schien unbeeindruckt zu sein und wandte sich von ihm ab.

„Jetzt warne ich dich aber, es ist nicht richtig, was du vor hast.“ Castorp wollte das abtrünnige Tier schnappen. Doch dem Pinguin gefiel diese Absicht gar nicht. Er legte sich auf den Bauch und rutschte eine Schneewehe hinunter. „Halt, Kaspar-David-Andreas!“, rief Castorp aus und lief hinter ihm her. „Du musst an die Küste zurück, zu den deinen.“ Der Pinguin lag auf dem Bauch und schien auf seinen wunderlichen Begleiter zu warten. „Ich kann im Schnee nicht so schnell laufen wie du, ich bin dafür nicht geschaffen.“ Castorp verschnaufte, wischte sich den Schweiß vom Gesicht. Der Pinguin erhob sich und ließ sich wie ein Kind beim Flügel nehmen. Gemeinsam trippelten sie weiter.

 

Die Passagiere hockten seit einer Stunde an dem Gletscher und warteten auf den Beginn der Aktion. Der grüne Menschenkranz gegen den Klimawandel versprach spektakulär zu werden. In der Mitte des Kreises wurde ein kahler Everest aus Pappe nachgebaut, als Symbol für das weltweite Verschwinden der Gletscher. Doch der Hubschrauber, aus dem die Aktion gefilmt werden sollte, konnte nicht starten. Der Animateur schrie ins Funkgerät, den Passagieren sei ein weiteres Warten nicht mehr zuzumuten, wenn nichts geschehe, müsse die Aktion abgebrochen werden.

Der Himmel trübte sich, am Horizont kündigten sich Schneewirbel an. Castorp und Kaspar-David-Andreas kämpften gemeinsam gegen den eisigen Wind. „Weißt du, dass der Eisschild hier 3000 Meter dick ist? Wenn die Erderwärmung kommt, wird es Tausende von Jahren brauchen, bis er geschmolzen ist. Das Meer wird überall ansteigen und viele Menschen und Tiere werden sterben. Aber uns wird es dann schon lange nicht mehr geben.“ Der Pinguin war müde und wollte nicht mehr laufen. Er ließ sich auf dem Schnee nieder.

„Die da sagen, dass meine Modelle die Realität nicht abbilden können. Ich kann aber nichts dafür. Wir haben die Messreihen der NASA benutzt. Sie galten als zuverlässig. Stell dir nur vor: Die NASA hat die Werte der Vergangenheit nachträglich geändert, um den Rückgang der Temperatur zu kaschieren. Weißt du, wer die Behörde geleitet hat? Ein linker Hund. Der Typ ließ bei einer Anhörung zur globalen Klimaerwärmung die Aircondition im amerikanischen Kongress ausfallen. In Washington ist das Wetter im August nicht wie hier bei euch. Die Abgeordneten schwitzten wie in der Sauna, und er konnte sie davon überzeugen, dass uns eine Klimakatastrophe droht. Falls nichts geschieht. Was fragst du? Was ich damals getan habe? Ich träumte von nachhaltiger Energie. Wirklich nachhaltig ist nur die Kernkraft, heute und auf ewig, die wollte aber keiner haben. Mit der neuen Generation von Atomkraftwerken hätten wir die Sintflut verhindern können. Ich habe diese Last auf mich geladen. Jetzt sagen sie aber, meine Computermodelle taugen nichts, da sie positive Rückkopplungen überschätzen. In Wirklichkeit sei die Empfindlichkeit des Klimas viel geringer als in unseren Modellen. Egal was man nehmen würde: den Wärmegehalt der Ozeane, die Änderung der Wolkendecke, Feuchtigkeit, Infrarot-Strahlung – alles sei von uns nicht korrekt berechnet worden, um eine Erwärmung zu suggerieren. Ich bin jetzt ein Fälscher. Sagen sie. Vielleicht habe ich ja auch meine Habil gefälscht wie dieser Blödmann von Minister? Sie würden darin ja ohnehin kein Wort verstehen, von den Formeln ganz zu schweigen. Nun schreit die Meute, der Erwärmungseffekt durch die menschengemachten CO2-Emissionen in meinen Computersimulationen sei um den Faktor 3 bis 7 übertrieben worden. Svessen hält mir die Sonne vor die Nase: Sonnenfleckenzyklus, kosmische Strahlung, El-Nino, AMO, PDO, NAO, Wolken-gemolken… Auf und ab, auf und ab. Dreißig plus dreißig macht sechzig.“

Kaspar-David-Andreas erhob sich und flatterte empört mit den Flügeln. „Du bist ein kluger Zeitgenosse.“ lächelte Castorp. „Jones und Mann haben unter einer Decke gesteckt, und dabei kam der Hockeyschläger raus.“ Castorp zeigte ihm, wie der Hockeyschläger aussieht. “Guck mal, ich halte mich an einem Stock fest. Er steht für den Verlauf der Temperaturkurve seit dem Mittelalter. Bis vor 150 Jahren verlief der Graph glatt, parallel zur Zeitachse. Dann bekommt der Stock eine Kelle. Das bedeutet, hat Mann behauptet, dass die Klimaerwärmung immer schneller, immer steiler voranschreitet. Der hat geschummelt. Im Mittelalter war es wärmer als jetzt. Da würdest du schwitzen, wenn du Schweißdrüsen hättest. In der Neuzeit haben alle gefroren, damals hättest du dich bei uns wie zu Hause gefühlt.“

Der Vogel bedeckte seinen Kopf mit seinen Flügelstummeln. „Die nächste Eiszeit kommt bestimmt. Weißt du, was das bedeutet? Das bedeutet, dass es nie mehr so warm wie jetzt werden wird. Die meiste Zeit herrschte Kaltzeit auf unserem Planeten. Wir leben in einer interglazialen Zeit, und davon sind schon 10.000 Jahre vergangen. In dieser Zeit ist alles entstanden. Der ganze Mensch mit seinem Müll: Prometheus, Atlantis, die Pyramiden, Tempel, Pompeji, Hitler, die Atombombe, die Photovoltaik, Facebook, die Energiewende. Uns sind also nicht mehr als 8000 Jahre geblieben. Dann braucht ihr, Guggenberger und Hardenberger, nicht mehr zu googlen und zu bloggen im ewigen Eis! Der einzige Ausweg wäre, immer mehr fossile Rohstoffe zu verbrennen, um die Erde ein wenig wärmer zu halten. Scheiterhaufen auf jedem Platz! Wenn ihr denn keine Kernenergie wollt, keinen Fortschritt! Und was, wenn die Sonne bald erlischt, fragst du? Nein, da reicht es noch für eine Weile.“ Castorp fror es. Der Pinguin schaute ihn traurig und ratlos an. „Mir ist sehr kalt“, sagte Castorp, „wir müssen weiter.“ Der Vogel rührte sich nicht von der Stelle. „Du hast recht, Kaspar-David-Andreas. Man muss Energie sparen.“ Castorp ließ sich nieder, drückte den Vogel an sich und grub sich in den Schnee. „Zu zweit wird es uns wärmer,“ flüsterte er, „wir müssen nur den Schneesturm überdauern, so machen das die Pinguine hier immer. Sie rücken zusammen und lassen sich vom Schnee verwehen. Kluge Tiere wie du eines bist beherrschen diese Überlebenskunst. Nachher werden wir zu den anderen zurückfinden,“ flüsterte Castorp.

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Über die Autorin

Sonja Margolina wurde 1951 in Moskau geboren, promovierte in Biologie und lebt seit 1986 als freie Publizistin in Berlin. Im Oktober 1991 erhielt sie in Klagenfurt den Preis des Landes Kärntner für internationale Publizistik. Sie ist Autorin mehrerer Bücher, unter anderem Das Ende der Lügen. Russland und die Juden im 20. Jahrhundert (1991); Die gemütliche Apokalypse: Unbotmäßiges zu Klimahysterie und Einwanderungsdebatte in Deutschland(1995); Wodka: Trinken und Macht in Russland (2004, 2013 als ebook). Im Berlin-Verlag erschien 2011 ihr erster Roman Brandgeruch.

Wikipedia-Profil

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KALTZEIT ist erhältlich als Ebook (5,01 €) und Taschenbuch (10,24 €):

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